Bericht Nr. II – MITLEID

… starke (sich in einem Impuls zum Helfen, Trösten o.Ä. äußernde) innere Anteilnahme am Leid, an der Not o.Ä. anderer. [1]

 

Nach meinen sechs Monaten, die ich hier in Kapstadt nun verbracht habe, möchte ich einen philosophischen Gedankenanstoß bei der Leserschaft hervorrufen; ein Gedanken-experiment, welches mich nicht in Ruhe lässt.

 

Eine Parabel

„A rich man opens the paper one day. He sees, the world is full of misery; he says ‘I have money. I can help.’ So he gives away all of his money, but it is not enough. The people are still suffering. One day the man sees another article. He decides, he was foolish to think just giving money was enough. So he goes to the Doctor and says ‘Doctor, I want to donate a kidney.’ The Doctors do the surgery; it’s a complete success. After, he knows he should feel good, but he doesn’t – for people are still suffering. So he goes back to the Doctor. He says ‘Doctor, this time I want to give it all.’ The Doctor says ‘What does that mean “GIVE IT ALL”’ He says ‘This time I want to donate my liver, but not just my liver. I want to donate my heart, but not just my heart. I want to donate my corneous, but not just my corneous – I want to give it all away. Everything I am. All that I have.’ The Doctor says ‘A kidney is one thing, but you cannot give away your whole body piece by piece – that is suicide.’ and he sends the man home, but the man cannot live, knowing that the people are suffering and he could help. So he gives the one thing he has – his life.” [2]

 

In vielerlei Hinsicht bin ich dem Gefühl des Mitleids äußert zuwider abgeneigt. Wieso? Wieso ist eine der wenigen menschlichen Eigenschaften, die einen Menschen auszeichnet, komplett missverstanden vom Großteil der Gesellschaft?

Wir setzten uns Ziele, Pläne, Wege, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, aber für wen? In keiner Weise möchte ich den menschlichen Drang zum besseren Leben verurteilen, noch schlecht reden. Ich möchte lediglich eben diesen kritisch auseinandernehmen oder zumindest versuchen den Kern zu erfassen. In meiner schriftlichen Kritik des Mitleids werde ich beispielhaft meine Auseinandersetzungen untermalen, damit man sich die Aspekte besser vorstellen kann. Es ist mir enorm wichtig hiermit festzuhalten: trotz meiner Kritik ist ‚Mitleid‘ eine antreibende Emotion, ohne die Menschen wie Gandhi, Nelson Mandela, Malala Yusafzei, Leo Tolstoi oder Desmond Tutu nie existieren hätten können. Davon bin ich überzeugt.

 

Abusive Relationship – Fälle von häuslicher Gewalt

Behavioral Issues – Fälle von Missbrauch bis zu Mord (Gang-Violence)

School – Schul-Suspendierung aufgrund von Fehlverhalten (Drogensucht, Gangmitgliedschaft)

Social Development – Arbeitslosigkeitsfälle, welche z.B. durch Schul-Suspendierung ohne Abschluss versuchen Arbeit zu finden

Substance Abuse – Fälle von Drogensuchten (Alkohol, Marihuana, Cristal Meth, etc.)

Substance Abuse Counselling – Beratung für Angehörige und Betroffene bei Drogensucht

 

Es frisst mich von innen auf, wenn ich auch nur daran denke, wodurch meine Mitmenschen in Lavender Hill durchgehen mussten, bis heute noch durchgehen und weiterhin durchleben werden. Allein durch diesen einen Satz rufe ich nicht nur Stigma hervor, sondern auch tief unterbewussten Rassismus gegenüber eben diesen Mitmenschen. Daher bitte ich mit großer Vorsicht die nächsten Zeilen zu lesen.

Lavender Hill ist ein Stadtteil Kapstadts, welcher durch einen inhumanen Akt des Apartheit-Systems entstanden ist – die sogenannten ‚Cape Flats‘. Wo früher eine wilde Vegetation herrschte, wurden kurzerhand billige Blechhütten erstellt, welche zum Zwangsumzug für ‚People of Colour‘ (mit anderen Worten: alle nicht Weißen) dienten. Manchmal wurden sogar die Blechhütten erst später gebaut, nachdem die Menschen schon umgesiedelt wurden. Durch diese Zwangsumsiedlung von großen Menschengruppen, genannt „Group Areas Act Nr. 41 of 1950“, sind nicht nur Familien auseinander gerissen worden, sondern auch neue Konflikte entstanden. Konflikte, die sich im inneren dieser ‚Communities‘ abspielen. Es entstand eine neue Verschachtelung, in der es galt sich zu beweisen – eine tragische Voraussetzung für die Entstehung von kriminalisierter Gewalt, menschlicher Ausbeutung und Drogenmissbrauch. Die Arbeitslosenzahl, die Mordrate und die Drogenabhängigkeit sind in Lavender Hill exorbitant und ich als Außenstehender bekomme auch nur die Spitze des Eisberges mit.

Auf die folgenden Beispiele werde ich nicht detailliert eingehen können, da ich um Schweigen gebeten wurde und daher werden weder Namen, Beziehungen zu den Personen, noch sonstige Informationen niedergeschrieben. Die Statistik entstammt aus dem ‚Advice Office‘ von meiner Arbeitsstelle in New World Foundation; mit anderen Worten: es spiegelt nur einen Teil von Lavender Hill wieder und muss vertraulich behandelt werden.

Ich hatte Fälle erlebt, in denen Kleinkinder stark unter häuslicher Gewalt litten; Frauen und Männer ihr Zuhause verließen wegen sexuellem Missbrauch; Menschen, die jahrelang unter exzessiver Drogenabhängigkeit sich selbst und alle Mitmenschen um sich herum mental und körperlich zu Grunde richteten und immer noch richten. Kindermord, Vergewaltigung, Menschenschändung und viele weitere Gräueltaten entstanden durch Kolonialismus, Apartheit und weiße Privilegien – das alles ist kaum fassbar für einen westlich geprägten Mann wie mich.

Fazit:   Die menschliche Welt ist ein scheußliches Konstrukt, basierend auf gnadenloser Ausbeutung, Verachtung und Gewalt. Um es mit Thomas Hobbes Worten zu sagen; Homo homini lupus.

 

Bin ich Pessimist? – NEIN, eher das komplette Gegenteil!

 

Zu Beginn des Auslandsjahres und auch heute noch fällt es mir schwer, wenn ich oben aufgezählte Tragödien mitbekomme. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Tief in mir schwillt eine Welle von MITLEID heran. Wie kann es denn sein, dass ein kleines Kind ohne etwas dafür zu können in Slums aufwachsen muss und ich im Kontrast eine absolut rosarote Bilderbuch Kindheit durchleben durfte? Wie kann es denn sein, dass Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe missbraucht, verachtet und der Würde beraut werde? Wie kann man Menschen dafür töten, nur weil diese Menschen ähnlich einem wilden Losverfahren zufolge irgendwie, irgendwo, irgendwann auf dieser Erde gelandet sind?

Es ist eine düster endlose Spirale an Fragen. Und was fühle ich dabei? Genau, Mitleid. Ich leide mit Menschen, die durch die Hölle gehen. Ich fühle Empathie und trauere mit ihnen, aber warum ist es denn falsch? Ich wage es einen Gedanken aufzustellen, in dem ich ausdrücken möchte, dass es kein Recht dieser Welt gibt Mitleid zu empfinden. In keinster Weise. Warum darf ich nicht Mitleid empfinden, wenn ich mitbekomme, dass ein Kind zu Hause geschlagen wird? Da ich mir nicht im schlimmsten Albtraum vorstellen kann, wie es dem Kind ergeht – im wahrsten Sinne des Wortes: ich kann die Leiden des Kindes nicht erleiden und somit nicht mit leiden. Nur das Kind selbst erleidet diese Schmerzen. Ich, als Weißer, werde nie wissen können, wie Schwarze aufgrund ihrer Hautfarbe in Deutschland auf täglicher Basis diskriminiert werden. Wie haben Juden im Holocaust gelitten? Wie leiden Frauen in Männerdominierten Gesellschaften? Genauso könnte ich einem heterosexuellen Menschen nie erklären, was es heißt unter Homophobie zu leiden.

Frei nach Wittgenstein: Leid ist und bleibt subjektiv.

 

Mitleid in den ausgeführten Beispielen ist vollkommen fehl am Platz. Dies habe ich hier von vielen Menschen gehört. Was nützt es denn bemitleidet zu werden? Es ist einfach eine umgedrehte Form von Neid. Eine Aktion, aus Mitleid heraus begonnen, endet doch damit sein eigenes Ego aufzugeilen. Nein, was wirklich hilft ist es den Blick zu öffnen und ein gewisses Bewusstsein zu entwickeln. Mit diesem Bewusstsein schafft man es nicht nur vielleicht wirklich zu helfen, sondern auch die Welt als menschlich wahrzunehmen, denn was sieht man? Ich sehe in New World Foundation Menschen, die zusammenhalten, sich auf Augenhöhe begegnen und wahrlich Großes tun für ihre Mitmenschen aus Lavender Hill. Mir wird hier immer und immer wieder menschliche Liebe gezeigt, Fürsorge und ehrliche Empathie.

In einem Satz: ich rufe nicht dazu auf kein Mitleid mehr zu empfinden, sondern eben dieses zu hinterfragen.

 

Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen: in diesem Bericht aufgeführte Gedanken sind und bleiben nur meine Gedanken, über die sich diskutieren lässt, die fehlerhaft sind und sich im Laufe eines Lebens wahrscheinlich auch noch entwickeln werden. Es war nie meine Absicht jemanden aufgrund seiner oder ihrer Gefühle zu kränken. Mein Ziel ist es Menschen zum Hinterfragen zu führen.

Bei Interesse für mehr Informationen über …

 

„Group Areas Act Nr. 41 of 1950“:

  • Priscilla Jana’s Autobiographie „Fighting for Mandela“
  • Nelson Mandela’s Autobiographie “Long Walk to Freedom”
  • https://www.thoughtco.com/group-areas-act-43476
  • https://www.dailymaverick.co.za/article/2020-01-27-they-took-away-our-house-they-took-away-our-neighbourhood-they-took-away-our-lives/

Die Situation in Lavender Hill:

  • https://www.groundup.org.za/article/afraid-leave-their-homes-lavender-hill-residents-tell-police-minister/

Die Fotos auf der ersten Seite wurden von meiner Mitfreiwilligen Emanuela Biyama geschossen. Diese Bänke befinden sich heute als Mahnmal in der Innenstadt Kapstadts. Auf ihnen steht ‚NON-WHITE ONLY‘ und ‚WHITES ONLY‘ (dt. ‘NUR FÜR NICHT-WEIßE’ und ‘NUR FÜR WEIßE’)

 

Eine freie dt. Übersetzung der Parabel

„Ein reicher Mann öffnet die Zeitung. Er sieht, die Welt ist voll von Elend; er sagt ‚Ich habe Geld. Ich kann helfen. ‘ Also gibt er all sein Geld, aber es ist nicht genug. Menschen leiden weiterhin. Eines Tages liest der Mann eine weitere Zeitung. Er stellt fest, es war dumm zu glauben Geld geben sei ausreichend. Also geht er zum Arzt und sagt ‚Arzt, ich möchte meine Niere spenden. ‘ Die Ärzte vollführen die Operation – es ist ein großer Erfolg. Nachdem er weiß, er solle sich gut fühlen, fühlt er es nicht – Menschen leiden immer noch. Da geht der Mann wieder zum Arzt und sagt ‚Arzt, diesmal möchte ich alles geben. ‘ Der Arzt erwidert ‘Was heißt denn ALLES GEBEN? ‘ Der Mann antwortet ‘Diesmal möchte ich meine Leber spenden, aber nicht nur meine Leber. Ich möchte mein Herz spenden, aber nicht nur mein Herz. Ich möchte meine Wirbelsäule spenden, aber nicht nur meine Wirbelsäule – Ich möchte alles spenden. Alles was ich bin. Alles was ich habe. ‘ Der Arzt sagt ‘Eine Niere ist eine Sache, aber du kannst nicht deinen ganzen Körper Stück für Stück abgeben. Das ist doch Selbstmord. ‘ und er schickt den Mann nach Hause, aber der Mann kann nicht weiter leben, wissend, dass Menschen leiden und er hätte helfen können. Also gibt er das einzige was er hat – sein Leben.

 

Johann Olenitsch

  1. Februar 2020, Kapstadt

[1] Duden

[2] Fargo (Fernsehserie); Staffel 1, Episode 5 (freie dt. Übersetzung im Anschluss)

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