3. Szene – Every Fantasy has its Roots in Reality

Es ist heller Vormittag am Fuße der Muizenberg Mountains. Leonie, Jan, Naomi, Felix und Johann gehen in verschwitzt in Sportsachen auf den Bergaufstieg zu.

JOHANN (zu Jan & Leonie) Und wie oft ist dieses gemeinsame Joggen? Monatlich oder einmal alle drei Monate?

JAN    Jeden. Samstag. Frühs.

FELIX Wow, Johann, ich glaube ich habe unsere wöchentliche sportliche Aktivität soeben gefunden. Lass das mal durchziehen.

JOHANN       Hmpf… Okay.

NAOMI          Ja, ohne mich.

LEONIE         Das ist kein Problem. (zu Felix & Johann) Ihr könnt ja von eurer Wohnung Frühs hier hin joggen und dann später weiter joggen.

JOHANN       Jaha, stimmt. Genau. Wir können es probieren. Ich bin mir nicht sicher ob ich es wöchentlich durchziehen kann. Es macht ja Spaß mit so vielen Kapstädtern gemeinsam diese fünf Kilometer zu laufen, aber … puh … das sind immer noch fünf Kilometer. Fünf. Kilometer.

Die fünf jungen Freiwilligen gehen nun langsam, aber stätig den Pfad auf den Berg. Der Gipfel ist vollkommen von Sonnenstrahlen eingehüllt.

Nach einer kurzen Wanderweile hört man von oben einen Mann mit ausgestreckten Händen etwas rufen. Allerdings versteht man ihn nicht, da die Felsen den Schall verschlucken. Bei den fünf Wanderern kommen nur Ansammlungen von Vokalen an.

JAN    Also irgendwie nervt er. (gen Gipfel) SHUT UP!

NAOMI          Was ruft er da?

LEONIE         Ach, keine Ahnung. Vielleicht irgendeine Predigt oder so.

JOHANN       Der hat aber ein lautes Ruf-Organ.

FELIX Vielleicht sollten wir auch einstimmen?

Beim Gang nach oben streckt Felix seine Hände von sich und fängt in gleicher Lautstärke, wie der Bergman, an zu schreien.

FELIX HEILIGE MARIA MUTTER GOTTES…

JAN Nein, Felix!

FELIX … HILF UNS UND UNSERE SÜNDIGERN

LEONIE         Kannst du bitte aufhören?

FELIX JETZT UND IN DER STUNDE UNSERES TODES…

NAOMI          FELIX!

FELIX …AMEN!

Johann kichert.

Felix lacht kurz auf, nimmt die Hände runter und die Wanderung wird in Ruhe fortgeführt –

nur der Bergprediger ist zu hören.

Nach einer Weile sind die Wanderer an eine Stelle angekommen, an dem sie eine Pause einlegen.

LEONIE         Hier – hört mal genau hin.

NAOMI          Ja?

LEONIE         Hier sind wir an die Stelle gekommen, wo man nichts mehr von der Stadt und ihrem Trubel hört. Das finde ich irgendwie total schön.

Und tatsächlich hört man keine Autos mehr fahren, kein Hupen und sogar den Bergprediger nicht. Alle genießen die Ruhe in Mitten einer Großstadt. Die Trinkpause ist am Ende und man setzt die Reise auf den Gipfel fort.

JOHANN       Kennt jemand von euch das Märchen „Die Damen und der alte Greis“?

LEONIE         Nein, worum geht es da.

JOHANN       Nun, soweit ich mich entsinnen kann, geht es um die Frage, was nach dem Tod kommt. Was denkt ihr kommt nach dem Tod?

LEONIE         Ich glaube an Gott und den Himmel. Es kommt der ewige Frieden und innere Ruhe.

NAOMI          Ja, ich glaube auch an Gott.

LEONIE         Aber worum geht es nun im Märchen?

Nun folgt eine szenisch bildhafte Zusammenfassung des benannten Märchens. Wobei Johann mit wenigen Worten anfängt „Die Dame und der alte Greis“ zu erzählen und von der Erzählerin nach einer Tonüberblende übernommen wird.

JOHANN       Dies ist ein Märchen über Tod und Leben, über Liebe zum da sein und Hass zur Nichtexistenz, über Ruhe und Qual, über…

ERZÄHLERIN          …über List und Hinterhalt und die daraus folgende Lehre.

Diese Geschichte ist lehrreich, grotesk und mystisch, aber hat auch wie jede gute Lüge einen wahren Kern.

Ich bin nur die Übermittlerin, der Erzählerin, sozusagen das Sprachrohr.

Aber nun hab ich genug erklärt und verlasse euch in die Welt

der Dame und des alten Greises.

Die Sonne ist gerade aufgegangen und erwacht. Sie legt ihre Hände dem alten Greis auf die trocknen Augen. Mit seiner Seele erwacht auch nicht nur er die Erinnerung an sein langes und mühsames Leben, sondern auch die Sorge. Wie jeder Mensch hegt auch er die Seinen. Aber an diesem sonnigen Tage fressen sie ihn auf von innen und außen. Sein Körper setzt sich langsam und unsicher auf – mit jeder kleineren Anstrengung spricht sein schwaches Herz zu ihm, denn seine Uhr tickt. Sie tickt und tackt dem Ende entgegen. Ein dunkler Schatten beugt sich über ihn und Freund Hein schlägt an sein kleines Fenster.

„Es wird Zeit, alter Mann.“, hört er eine Kinderstimme in seinem Ohr. Er blickt nach links und nach rechts, dreht sich einmal auf dem Bett um und sieht einen jungen Knaben von acht Jahren. „Komm. Ich nehme dich mit.“ – „Nein, bitte. Gib mir mehr Zeit. Bitte. Einen Tag, nur einen! Ich bin noch nicht so weit.“, fleht er den Jungen an. Dieser aber reicht ihm seine Hand als Antwort und erst da wird dem alten Greis etwas warm ums Herz. Seine grauen Augen erblicken herunter kullernde Wasserperlen auf den Wangen des Knaben. „Sag mir, wieso weinst du?“ – „Erkennst du mich denn nicht? Ich bin der junge Geist deiner vergangenen alten Seele. Ich brach aus dir – an dem Tag als deine Mutter starb. Erinnre dich! Ich bin dein Tod.“. Die Erinnerung an seine zu Staub zerfallene Mutter bedrückt den alten Greis und trotz der Sonne füllt sich der Raum mit Kälte. „Du bist allein, alter Greis. Komm.“ Die Tür aus der kleinen Kammer schiebt sich langsam auf und der Knabe tritt ihm in alten Lumpen entgegen.

„Weißt du wo sie ist? Werde ich sie wiedersehen? Ich habe Angst. Sprich zu mir, was erwartet mich hinter dieser Tür? Bitte, sag mir, dass mich meine Mutter in den Arm schließen wird, wenn ich dir folge.“ – „Das kann ich nicht. Ich bin nicht ihr Tod, nur deiner. Sobald meine Aufgabe vollbracht ist, bin ich nimmermehr. Was du, alter Greis, sehen oder nicht sehen wirst, dass weiß nur deine Seele.“ – „Aber ich weiß es nicht. Dann gib mir die Zeit es herauszufinden. Gib mir einen weiteren Sonnenaufgang, um die Antwort in meiner Seele zu finden. Ich flehe dich an!“.

Nun setzt sich der kleine Knabe ganz nah neben den alten Mann, senkt die Schultern, legt seine Hände auf seine weinenden Augen und schluchzt bitterlich. „Auch ich- auch ich kenne dieses Verlangen. Mein Leben lang habe ich dich begleitet und meine Aufgabe erfüllt, den heutigen Tag abgewartet, die Stunden gezählt und nun werde auch ich entlassen, ohne zu wissen wohin ich gehe.“ – „Du warst überall dabei?“ – „Seit dem Tag an dem Mutter starb.“

„Ich möchte dir und mir helfen. Du lässt mich nur einmal gehen und ich finde die Antwort auf unsere Plagen, dann wirst du mich guten Herzens mitnehmen können.“ Ohne seine roten Wangen preis zu geben willigt der Tod ein und gewährt dem Sterbenden einen weiteren Sonnenaufgang. Voller Ruhe und Zuneigung nimmt der alte Greis seinen jüngeren Knaben in den Arm und küsst dessen kleine Stirn, dann steht er behutsam auf, zieht sich weder seine Sachen an, noch nimmt er sich etwas aus der alten Wohnung. Mit bloßem Nachthemd verlässt er seine Gemächer und mit ihnen auch die Seele seines Todes.

 

Mit Alter kommt Weisheit – als der alte Greis aus dem Haus tritt, blickt er gen Himmel und hält seine zittrige Hand vor die Sonne. Er beobachtet welchen Weg sie geht und entschließt sich mit ihr zu gehen, damit sein Tag länger wird.

„Wohin des Weges, alter Mann?“, hört er eine liebliche Frauenstimme in seiner Brust flüstern. Er nimmt seine Hand runter und vor ihm steht im Sonnenschein ein Mensch schönsten Abbildes. Eine Frau, die er zu erkennen scheint, aber durch seine benebelte Sicht nicht erkennen kann. Schritt für Schritt geht diese Sonnengestallt auf ihn zu. Kurz vor ihm bleibt sie stehen, er fühlt ihre Wärme und ertastet ihren sanften Geruch in seiner Nase. Lange gewellte Haare hängen ihr über die Schultern und kaum berührt eine dieser Strähnen seine kahle Stirn, stockt ihm der Atem.

„Bist du die – die Liebe meines Lebens?“. Sie lacht, „Und ich dachte du wirst dich nicht an mich entsinnen. Du bist unverkennbar du geblieben, durch all deine Falten und Grübchen bist du immer noch zu erkennen. Du schöner alter Greis.“ – „Warum bist du nur so jung geblieben?“ – „Ich bin so geblieben, wie du mich in Erinnerung getragen hast. Also muss ich dir dafür meine Dankbarkeit zollen.“, sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Begleitest du mich ein Stück auf meiner Reise nach der Suche nach der Antwort?“, spricht der alte Greis und hält seiner Liebe wie in längst vergangenen Tagen seinen Arm hin. Sie willigt ein und schränkt ihren in den seinen ein.

„Ich werde bald sterben. Mein Tod hat mir diesen letzten Tag gegeben. Ich muss seiner Seele und meinem Geist helfen. Ich weiß nicht was nach dem Tod kommt und als ich ihn fragte, wusste er es selbst nicht. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben und werde es einhalten.“ – „Aber, Greis, was erwartest du nach dem Tod?“ – „Das ewige Leben.“ – „Und worauf hoffst du?“ – „Auf den ewigen Frieden.“ – „Lass mich dir eine Frage stellen. Dein Leben war lang, mühsam und von dir selbst gestaltet. Wenn du nun deine letzte Stunde ticken hörst, warum willst du die Werte deines Lebens über Bord werfen und erweckst die Liebe zur Ewigkeit in dir?“ – „Worauf willst du hinaus, meine Schönheit?“ – „Stell dir vor, in den ersten Jahren deines Lebens käme ein Geist auf dich und schlüge dir einen Vertrag vor, dass du den Rest deiner Zeit friedlich und liebend verbringen könntest. Würdest du unterzeichnen?“ – „Nein, das würde ich nicht.“ – „Wieso nicht?“ – „Ich bin froh über mein Leben, mit allen Geschicken und Missgeschicken, die ich erlebt habe. Sie haben mein Leben lebenswert gemacht. Durch sie bin ich zu dem Greis geworden, der ich vor dir stehe.“ – „Nun, wenn dem so ist. Wieso dieser plötzliche Sinneswandel? Genieße einfach diesen letzten Tag und lass deine Seele einfach gehen.“ – „Ins Ungewisse? Nein, das kann ich nicht, davor habe ich zu große Angst.“ – „Dein Leben war auch ungewiss und dennoch hast du es gelebt.“ – „Ich werde mein tödliches Versprechen nicht brechen.“

Alt und Jung schweigen sich an und gehen eine kurze Weile gemeinsam weiter. Der Greis sieht nachdenklich in ihr junges Gesicht. „Wieso sehe ich dich eigentlich erst jetzt wieder? Bitte, was hätte ich für einen innigen Kuss von dir alles gegeben.“ – „Horch mir zu, alter Greis. Ich bin gekommen, um dir das Herz zu brechen; nicht um es dir zu verjüngen.“ – „Wie meinst du das?“. Ihre Stimme fällt und wird zu einem tiefen düsteren Bass, ihre Haut kalt und unangenehm, die Fingernägel wachsen und vergraben sich in seinem Fleisch. „WAS IMMER DU PLANST – WENN DIR DEINE SEELE LIEB IST – LASS DIES EINE WARNUNG FÜR DICH SEIN UND GEH ZURÜCK ZUM KNABEN.“ – „Nein, nicht vor dem nächsten Sonnenaufgang!“, schreit der alte Greis und läuft wie es seine krummen Beine noch zulassen, aber anstelle einer Verfolgung ist die Gestalt seiner Liebe hinter ihm verschwunden und über ihm brennt die Sonne lichterloh auf ihn herab.

Die Sonne steht genau über ihm und er weiß, durch sie schaut die Liebe seines Lebens auf ihn herab. Ihm graust’s davor. Ein Schatten wird ihm die richtige Sicherheit geben. Sein langsamer Weg führt ihn durch einen dichten Wald, unter deren Kuppeln er seinen Weg neben der Sonne bahnt, unter großen grauen Regenwolken, die ihn bis auf die Knochen durchnässen und hinter dem Schatten des großen Eisberges, an dessen Fuße er sich hält. Das Alter verlässt ihn spüren, dass seine Beine des Gehens und Tragens müde sind.

 

Kaum hat er sich auf einem Baumstumpf niedergesetzt, als er eine Stimme in den Spitzen seiner Zehen eine schrille Stimme vernimmt. „Steh auf, alter Mann!“ – „Wer ist da?“ – „Hier unten!“ – „Wo?“ – „Steh auf, hab ich gesagt!“. Der alte Greis tut, wie ihm geheißen. Was er nicht wusste: er hatte sich seinen Platz auf genau dem Stumpf ausgesucht, wo eine kleines Waschweib ihr nachmittags Nickerchen gehalten hatte. Sie rettete sich in letzter Sekunde, jedoch nicht ihren rechten Arm, vorm zerquetscht werden.

„Oh, gnädige Frau! Ich bitte zu tiefst um Vergebung. Wie sind sie denn dahin gekommen? So bleiben sie doch stehen!“, aber die kleine Frau hört nicht auf den Alten, reibt sich ihren schmerzenden Arm und flucht leise vor sich hin. Als sie bemerkt, dass sie vom alten Greis verfolgt wird, beschleunigt sich ihren Gang durchs Dickicht und kaum hat der alte Mann nicht hingesehen, ist sie auch schon verschwunden. Er ruft nach ihr, entschuldigt sich und schiebt die Blätter beiseite – da öffnet sich für ihn eine neue kleine Welt. Die gnädige Frau besitzt ein kleines Haus, einen Garten, einen Schuppen und  Stall. Alle ihre Tiere sind von winziger Größe, genau wie sie.

„Geh weg, alter Mann! Ich bin nicht da!“, kommt’s aus dem Häuschen hinter verschlossenen Türchen.

„Aber ich muss mich bei dir entschuldigen, gnäd’ges Fräul-„

„Ich bin nicht gnädig!“

„Wieso denn ni-„

„Was willst du, alter Greis!“

„Ich – ich bin auf der Suche nach der Antwo-„

„Hammanich!“

„-wort auf das Leben.“

Erst ein quickendes, dann ein knackendes und danach ein spritzend-ziehendes Geräusch kommen aus dem Hüttchen.

„Was war d-„

„Ich zieh dem Hasen das Fell über die Ohren – hab Hunger. Da hast du deine Antwort. Nun geh, alter Mann!“

„Nein, wo finde ich die Antwort auf das Leben nach und vor dem Tod? Die Antwort, die jeder sucht – auch du. Der Sinn unserer Existenz! Wenn du mir weiterhelfen kannst, dann werde ich mich bei dir natü-„

Das Türchen des Hüttchens springt auf und das kleine Weib steht mit Hasenfell, Hasenfleisch und Hackebeil in dem linken Händchen im Türrahmen. Sie wischt sich das Blut am Schürzchen ab, atmet tief ein und blickt nach oben in die Augen des alten Greises.

„Versprich mit, alter Greis, wenn ich dir die Geschichte der Dame erzählt habe, dass du mich in Ruh‘ und Frieden lässt.“ – der Alte nickt. „Der Gipfel dieses Berges, an dessen Fuße du gerade stehest, dieser Gipfel birgt ein trauriges Geheimnis. Man sagt, dass ganz oben, auf einem eisernen Thron die Dame lebt und jedem Wanderer und jeder Wanderin die Antwort darauf gibt, nicht nur wie und wann man verstirbt, aber auch was danach geschieht. Viele dieser armen Seelen konnten die gesprochenen Worte nicht ertragen und stürzten sich in die Tiefe, nur um dann festzustellen, dass genau das ihre Prophezeiung war.

Wie die Dame auf ihren Thron gekommen ist, weiß keiner. Sie sitzt seit Anbeginn der Zeit da oben und man munkelt, dass der Berg sich um ihren Thron gebildet hat. Wie sie leben kann, weiß keiner – aber um eine Antwort über das Leben zu haben, musst du ihr etwas zu ihrem eigenen Leben geben. Die meisten überbringen ihr ein Laib Brot, andere eine Flasche Wein und wieder andere einen Fisch. Vergiss also auch du nicht etwas der Dame zu geben, alter Greis! Und wenn du wirklich zu ihr rauf willst, dann musst du einen mühsamen Weg gehen, denn alle leichte führen an ihr vorbei. Nun verzieh dich, Alter!“ – „Aber ich habe nichts, was ich der Dame geben könnte.“ – „Oh, nimmt es denn nie ein Ende! Diese Qualen – nimm dir etwas aus einem Garten und lass mich allein. Die Schmerzen sind unbeschreiblich. Geh!“

 

Die Reise des alten Greises führt ihm zu einem Wegweiser am Berge, er blickt auf den Pfad, der neben dem Wegweiser seinen Anfang hat und erinnert sich an die Worte des Waschweibes. Anstelle des Pfades nimmt er den besagten schwersten Weg. Er blickt auf die Bergspitze, verweht und in Eis gehüllt. Seine Gedanken bleiben beim Wunsch nach der Antwort hängen und jede Sorge des Besteigens ist vergessen. Schritt für Schritt, kräftezehrend und mühevoll erklimmt er Steinfelsen für Steinfelsen. Am Anfang wird er noch von Vögel, Bächen und Wäldern begleitet. Jedoch desto höher er kommt, desto kälter und leerer wird sein Aufstieg. Er merkt, wie seine Glieder aufgeben, das Gleichgewicht verschwindet und seine Augen durch den dichten Schneenebel nichts mehr erkennen. Mehrfach drückt ihn die Verzweiflung an den Berg dicht heran. Seine Tränen fallen als Eiskügelchen herunter und seine roten Finger spürt er nicht mehr. In Gedankenversunken sieht er den jungen Knaben.

„Du schaffst es nicht, alter Mann. Gib dein Versprechen auf und lass uns gehen.“, hört er ihn sprechen. Der alte Greis öffnet seine Augen und sieht weder den Knaben noch die Sonne. Eine Hand wird ihm gereicht und zieht ihn durch den Nebel nach oben. Wegen des starken und warmen Griffs umgibt ihn ein hoffnungsvolles Gefühl. Jemand setzt ihn und langsam kommen seine Sinne wieder zu ihm zurück.

„Ich weiß warum du hier bist.“, spricht die Dame zu dem alten Greis, der sich im eisernen Thron aufrichtet. „Du suchst eine Antwort auf das Leben nach dem Tod und ich kenne sie.“, spricht sie auf ihn ein. „Aber ich weiß auch, was du mir bringst und möchte dir sagen, dass du dadurch keinen Frieden finden wirst. Das ewige Leben ist verlockend, aber es ist es nicht wert. Bitte glaube mir. Nimm deine Gabe mit und kehre um, kehre um zum Knaben. Das wird deiner Seele gut tun und dir eine große Last von den Schultern nehmen. Ich flehe dich an, tu’s nicht! Reue wird dein altes schwaches Herz erfüllen.“

Ein breites Grinsen kommt auf das Gesicht des Alten und ganz langsam greift er in eine kleine Tasche. Nimmt das, was er im Garten gepflückt hat und reicht es der Dame. „Du gibst mir die Antwort auf das Ende meines Lebens, wenn ich dir zu Anfang was zum Leben geb. So nimm nun diese Tollkirschen für deinen Tod und gib mir die Antwort auf mein ewiges Leben!“, schreit er in den Sturm hinein und drei kleine schwarzen Tollkirschen fallen in die Hände der weinenden Dame.

Sie schluckt die Erste. „Du wirst auf ewig leben…“

Sie schluckt die Zweite. „… und musst allen Reden und Antwort stehen…“

Sie schluckt die Dritte und Letzte. „… die hier kommen und gehen.“

Schwarze Adern überlaufen das Gesicht und den Körper der Dame. Sie fällt tot um und fliegt den Berg hinunter. Wo sie einst am Boden zerschellt ist, wächst nun ein Wald voll Tollkirschensträucher und auf dem Gipfel des Berges sitzt auf ewig der alte Greis. Ein Aufschrei ging durch die Welt, als die Dame fiel.

Kaum wurde dem alten Greis bewusst, was geschah – steht auch schon der Knabe vor ihm und blickt traurig zu Boden. „Du hast dein Versprechen nicht gehalten, alter Mann.“, sind seine letzten Worte und er zerfällt zu Staub. „Ich habe dich ja gewarnt!“, hört der Greis von oben und die Sonne brennt auf ihn hernieder. „Da bist du!“, vernimmt der Verdammte vor sich und sieht in die kleinen Kulleraugen des Waschweibes. Sie steht vor dem Thron, mit einer Armbinde aus Hasenfell und dem Beil in der linken Faust. „Wir alle wissen, was du getan hast. Und wir alle wissen, was du uns zu sagen hast.“, spricht die kleine Frau, holt mit der rechten Hand aus und rammt das Beil dem Alten ins Herz. Dieser fängt an zu verbluten und spricht ihr die Worte des Lebens aus. Zufrieden steigt das kleine Fräulein den Berg hinunter. Was sie nicht mehr auf dem Berg erlebt ist, dass der Alte kaum, das er das Licht des Lebens verliert, wieder auf dem Thron sitzt und wartet. Wartet auf jeder Wanderer und jede Wanderin, die ihren Weg zum alten Greis bahnen. Sie bringen ihn um, damit er ihnen die Antwort auf den Tod gibt, er jedoch muss oben bleiben, tausendmal sterben und immer weiter leben.

 

Und die Moral von der Geschichte ist,

dass die Suche nach Antworten auf Fragen,

die keine haben,

vergebens ist. 

Die Geschichte hat ihr Ende gefunden und die Wanderung der Freiwilligen das ihre.

Der Gipfel ist erklommen und bietet eine 360° Sicht auf die Stadt.

LEONIE         Hmh, interessantes Märchen.

JOHANN       Danke, die hab ich mir gerade ausgedacht.

One Responses

  • Gabi/GMe

    Denk dir weitere Geschichten aus. Schreib sie auf und mach später ein „erbauliches“ Büchlein daraus.
    LG GMe

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