Von bedeutsamer Ungerechtigkeit und qualvollen Ereignissen

 „Wie kann es sein, dass wir darüber nicht gewusst haben? Es macht mich wütend, dass die Medien über solch ein wichtiges Thema schweigen!“

Milena und ich unterhalten uns. Sie scheint aufgebracht, gar traurig. „Ich kann solch eine Ungerechtigkeit nicht akzeptieren!“ sagt sie mir in einer Sprachnachricht. Ich versuche sie zu beruhigen. Sie erzählt mir von Gesprächen, die sie in ihrem 2. Monat im Westen Papuas führen durfte. Eine lange Konversation zwischen ihr und mir über Whatsapp folgt. Jegliche Versuche sie zu beruhigen scheitern. Ich kann ihre Aufregung nicht nachvollziehen. Bis ich ihren Rundbrief erhalte. Er handelt von bedeutsamer Ungerechtigkeit und qualvollen Ereignissen in dem Land, in welchem wir beide für 12 Monate leben. Milena klärt mich auf.

Und nun auch dich. 

Für solch eine entscheidende und wichtige Wahl „wurden 1025 Männer ausgewählt um eine komplette Bevölkerung (über 2 Mio. Menschen) zu vertreten. Sie wurden zum Abstimmungsort eskortiert und unter verschiedenen Androhungen (Mord, Gewalt etc.) dazu gebracht, für den Verbleib Indonesiens zu stimmen.“

Hallo ihr Lieben,

heute möchte ich euch gerne einen kleinen Einblick in die indonesische Geschichte geben. Neben mir, gibt es eine weitere Freiwillige in Indonesien, wie ihr vielleicht schon in meinen vorherigen Blogbeiträgen gelesen habt. Sie lebt und arbeitet in einem Frauenzentrum in Westapua, 6.200 Kilometer von mir entfernt.

Mein Wunsch, wie auch Milenas ist es,  dass du dir den Brief gewissenhaft durchliest und deinen Beitrag, soweit es dir möglich ist dazu leistest, mehr und mehr Menschen im Globalen Norden davon wissen zu lassen.

Danke Milena, dass ich deinen Rundbrief, in dem du so wichtige, fundamentale Themen, erschreckende, grauenvolle Ereignisse der Vergangenheit sowie Gegenwart, Prozesse, Entwicklungen und Herausforderungen thematisiert, denen der Mund in den Medien zugehalten wird.

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Mein Erster Rundbrief – Milena Javersek

[…]Diesen Rundbrief möchte ich stattdessen nutzen um auf die Geschichte von West Papua einzugehen auch weil sie unmittelbar einen Einfluss auf meinen Aufenthalt hier hat.
Wenn man den historischen Hintergrund eines Landes oder einer Menschengruppe kennt, dann kann man einige Zustände im Land einfach besser nachvollziehen und verstehen.
Daher denke ich, dass es wichtig ist, dass ich die Reichweite die ich mit diesem Brief habe nutze um darauf aufmerksam zu machen was hier in den Letzten ca. 60 Jahren passiert ist und wozu es geführt hat.
Die Idee diesen Rundbrief so zu nutzen habe ich durch einige Gespräche mit Marion bekommen (sie kommt aus Deutschland, ist aber schon öfter in Papua gewesen und hat im Oktober ca. 3 Wochen in dem 2. Gästehaus vom P3W gewohnt), bei welcher ich mich hiermit auch bedanken möchte für die Informationen die sie mir zur Verfügung gestellt hat und die tollen Gespräche die wir geführt haben!

Fangen wir im Jahr 1828 an; die Insel Papua, sowie der Rest Indonesiens, befand sich unter der Herrschaft der Kolonialmacht Holland. Ich werde nicht detailliert auf die Kolonialzeit eingehen und setzte ein gewisses Grundwissen darüber wie Kolonialmächte mit „ihrem Eigentum“ bzw. den lokalen Menschen und ihrem Eigentum (Land, Bodenschätze uvm.) umgegangen sind und welches rassistische Weltbild sie lebten voraus.
Stattdessen machen wir einen kurzen Zeitsprung ins Jahr 1952; in diesem Zeitraum wurde der Druck von außen auf Kolonialmächte immer stärker ihre Herrschaft zu beenden und die besetzten Länder unabhängig werden zu lassen. So bildeten die Niederländer eine interne Selbstverwaltung Papuas in der sowohl Holländer als auch Papuas vertreten waren.
Einige Jahre zuvor wurden andere Gebiete Indonesiens nach und nach unabhängig und da man von den Bodenschätzen die es auf Papua geben soll gehört hatte, wollte Indonesien mit der Begründung, dass „Alles was vorher Holländische Kolonie war jetzt zu Indonesien gehören müsse“ von dem Reichtum profitieren.
Die Maßnahmen der Holländer Papua auf die Unabhängigkeit vorzubereiten waren aber im vollen Gange; es wurde in die Bildung einiger Papuas investiert (manche bekamen die Möglichkeit in Holland zu lernen und zu studieren, Schulen und Universitäten wurden in den Städten gebaut, Lehrer ausgebildet etc.), in die Infrastruktur wurde Geld gesteckt (Straßen gebaut, Verbindungen zwischen einigen Dörfern und Städten geschaffen etc.), es gab eine eigene Landeshymne und das Datum für die geplante Unabhängigkeit stand fest: 1970. Am 1.12.1961 wurde dann das erste Mal die Morgensternflagge (die Landesflagge Papuas) gehisst und sie wurde zum Symbol der Unabhängigkeit.
Um zu verstehen was in dem folgenden Jahr passierte muss man andere globale Verbindungen und Geschehnisse betrachten.
Während des kalten Krieges fühlten sich die US-Amerikaner von der politischen Entwicklung in Süd-Ost Asien bedroht, weil sich dort viele Menschen zum Kommunismus und Sozialismus bekannten. Um diese Bedrohung unter Kontrolle zubekommen unterstützte die US-Administration unter Kennedy die indonesische Regierung und ermöglichte so, dass Westpapua per UN-Vertrag 1962 Indonesien zugewiesen wurde.
Somit hatte Sukarno (Indonesiens damaliger Präsident) mehr Land und die Bodenschätze und Präsident Kennedys Angst vor einem südostasiatischen Kommunismus war eingedämmt – Die Westpapuas profitierten kein Stück und wurden auch nicht nach ihrem Einverständnis gefragt.

(Wie groß der Einfluss Amerikas während der Zeit in Indonesien gewesen ist zeigte sich auch in anderen Teilen des Landes z.B. bei den Massaker die 1965-1966 durch Teile der indonesischen Armee und eigens für den Massenmord eingespannte Milizen durchgeführt wurde (wer sich darüber weiter informieren will, es gibt viele Artikel und Dokumentationen zu diesem Thema, aber als Einstieg und einen kurzen Überblick ist hier der Link zum Wikipedia Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_Indonesien_1965%E2%80%931966 )).
Im folgenden Jahr (1963) marschierte das indonesische Militär also in Westpapua ein und das Land wurde besetzt – alles unter den verschlossenen Augen der UN.
Erst 6 Jahre später (!) wurde das von der UN angeforderte Wahlreferendum umgesetzt, in welchem die lokale Bevölkerung selber darüber bestimmen durfte, ob sie unabhängig werden oder zu Indonesien gehören möchten – der so genannte „Act of free choice“ (1969).

Für diese Wahl wurden 1025 Männer ausgewählt um eine komplette Bevölkerung (über 2 Mio. Menschen) zu vertreten. Sie wurden zum Abstimmungsort eskortiert und unter verschiedenen Androhungen (Mord, Gewalt etc.) dazu gebracht, für den Verbleib bei Indonesien zu stimmen.
Obwohl die Unrechtmäßigkeit des Prozesses inoffiziell eingestanden wurde, akzeptierten UN-Beamte das Ergebnis des Referendums und dieses wurde so auf der UN-Vollversammlung von einer Mehrheit der Mitgliedsländer abgesegnet. So ist der “Act of free choice” bekannt geworden als der „Act of no choice”.
(mehr zu dem Thema (auf englisch): https://awasmifee.potager.org/?page_id=51 // oder (deutsch): https://www.suedwind-magazin.at/westpapua-ein-schandfleck-in-der-geschichte-der-uno)
Schon vor dem Unabhängigkeitsreferendum (also bevor Westpapua offiziell Teil Indonesiens wurde!) überlässt Indonesien der Amerikanischen Firma „Freeport McMoRan“ 1967 Schürfrechte in Westpapua. Daraus entsteht im Folgenden das größte Gold- und drittgrößte Kupferbergwerk der Welt. Bis auch Westpapua Gewinne aus dem Reichtum der sich in ihrem Land befindet ziehen kann dauert es einige Zeit, denn erst seit einigen Jahren erhält auch Papua (im Vergleich immer noch einen sehr geringen Anteil) Abgaben der Firma (insg. 250 Mio. US$ pro Jahr erwartet die indonesische Regierung in Form von Lizenzen, Körperschaftssteuern und Dividenden).
Die Miene ist auch aus anderen Gründen zu einem Fluch für die lokale Bevölkerung geworden, denn indige Menschengruppen werden um ihr Land betrogen, werden umgesiedelt oder bedroht um weitere Bodenschätze abzubauen. Außerdem wird der Fluss der in der Nähe der Miene verläuft täglich mit 100.000 Tonnen Rückständen aus der Erzförderung belastet, dadurch sind die Regenwaldgebiete im Überschwemmungsgebiet biologisch tot.
(„Die Tatsache, daß Freeport die Erlaubnis bekam, hier zu arbeiten und abzubauen, unsere Mineralien auszubeuten, die Grundlagen unserer Existenz zu zerstören, uns vom Land unserer Vorfahren zu vertreiben, uns in Armut und Elend zu stürzen, uns auf unserem eigenen Land zu töten, all das ist Ergebnis einer Politik, die im Zentrum beschlossen wurde.
Darum ist es die Zentralregierung, die Verantwortung übernehmen muß, eine Lösung dieses Problems zu finden.“ /tapol Bulletin, Nr. 123/ (http://www.watchindonesia.org/II_1_96/Timika.htm um sich ausführlicher über die Folgen des Handelns der Firma Freeport zu informieren.))

1965 wird die OPM (Organisation für ein freies Papua) von Rebellen gegründet, welche brutal von dem indonesischen Militär bekämpft und deren (mögliche) Anhänger menschenverachtend gefoltert, misshandelt, getötet oder verstümmelt werden. Trotz der Brutalität des Militärs ist die Bewegung bis heute noch aktiv (wenn sie auch gelegentlich für einige Jahre untertaucht) und bietet der indonesischen Regierung seit 50 Jahren die Stirn (auch über die Vorgehensweise der OPM kann gestritten werden bzw. auch die OPM setzt bei ihrem Kampf für Unabhängigkeit Waffengewalt ein und einige Menschen starben/sterben durch ihre Hand). Die Zahlen über die Toten die dieser ungleiche Kampf fordert ist ungenau (vor allem im Hochland), aber einige Quellen sprechen von über 100.000 Toten durch das indonesische Militär.
1984 änderte sich die Widerstandsform und NGOs, politische Organisationen/Zusammenschüsse und die Zivilgesellschaft setzten sich für einen gewaltfreien Kampf für die Selbstbestimmung (mit dem Ziel Unabhängigkeit) ein. Sie kämpfen für Frieden, Freiheit, Verbesserung der Lebensbedingungen und einen Dialog zwischen den verschiedenen Parteien, sowie für die Wiederholung des Wahlreferendums (diesmal unter akzeptablen Bedingungen).
Weil diese friedliche Bewegung auf ihre eigene Weise extrem gefährlich für die indonesische Regierung ist, wird auch sie aufs härteste bekämpft und Menschenrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit missachtet, indem zum Beispiel Teilnehmer von Demonstrationen mit Gewalt wie Folter/Degradierung, willkürlicher Verhaftung, Erniedrigung und grober Misshandlung zu rechnen haben.
Seit meiner Ankunft habe ich eine Demonstration mitbekommen bzw. von unserem Gelände aus beobachten können. Die Demonstrationen werden hauptsächlich von den Studenten in den jeweiligen Städten organisiert und sowohl hier in Jayapura als auch in Wamena kam es zu mehreren verletzten und auch Tote durch das indonesische Militär.
Die Menschenrechtsverletzungen sind also auch heute noch gravierend und der Rest der Welt bekommt davon kaum etwas mit. Um den Informationsstrom zu hemmen hat das Militär Kontrolle über die Internetverbindungen der Städte übernommen und stellt dieses nach den Protesten meistens ab oder sorgt zumindest für Störungen.
Was den Kampf für Unabhängigkeit der Papuas für mich so schrecklich aussichtslos erscheinen lässt, ist der Kampf gegen die Zeit.

Denn schon in Daten von 2014 ist in der Bevölkerung Westpapuas eine erschreckende Entwicklung zu sehen: von den 3.612.854 Menschen bildeten 52% der Bevölkerung indonesische Transmigranten und nur 48% sind noch ursprüngliche Papuas.
So wird die einheimische Bevölkerung zur Minderheit im eigenen Land.
Wenn diese Entwicklung so weiter geht – wovon auszugehen ist, denn die Migranten bekommen Geld und Land von der indonesischen Regierung zur Verfügung gestellt, wenn sie sich dazu entschließen nach Westpapua zuziehen z.B. um dort ein Unternehmen aufzubauen – dann ist zu erwarten, dass auch ein erneutes Unabhängigkeitsvotum, welches die Papuas seit so vielen Jahren fordern, erneut zu Gunsten Indonesiens ausfallen wird, weil die einheimische Bevölkerung nun in der Minderheit ist.
Auch die Geburtenrate der Papuas ist im Vergleich ziemlich gering (es sterben ca. 11,5% der Kinder bevor sie 5 Jahre alt werden – das ist doppelt so hoch wie in PNG und dreimal so hoch wie in Rest Indonesiens) und so sprechen einige Autoren von Menschenrechtsorganisationen sogar von einem schleichenden Genozid.

Ich möchte betonen, dass ich hier nur einige der vielen wichtigen Themen angesprochen habe und eine intensivere Auseinandersetzung der Thematik notwendig ist. Es gibt noch viele weitere Ungerechtigkeiten von welchen die lokale Bevölkerung bedroht ist, die in meinem Rundbrief keinen Platz gefunden haben – was auf keinen Fall bedeutet, dass sie weniger von Bedeutung sind oder nicht unsere Aufmerksamkeit verdienen!
Ich habe die Themen allerdings nur oberflächlich behandelt um eine grobe Übersicht zu schaffen und hoffe, dass ihr euch nun in der Verantwortung seht euch weiter zu informieren und zum Beispiel die Links die ich hinzugefügt habe nutzt um einen Einstieg zu finden.
Außerdem möchte ich euch bitten über das gelesene zu reden, zu berichten und mit Freunden und Bekannten zu teilen. Denn ich finde es unvorstellbar, dass eine so große Ungerechtigkeit auf der Welt stattfindet und kaum jemand im globalen Norden davon weiß und ich hoffe, dass wir auf das Unrecht das den Menschen hier wiederfährt aufmerksam machen können – oder zumindest nicht die Augen davor verschließen und es ignorieren werden.
Bei Nachfragen und für weitere Gespräche zu diesem Thema stehe ich gerne unter der E-Mail: milena.javersek@gmail.com (oder für die alle die meine Nummer haben über Whatsapp) zur Verfügung.
Ich freue mich über Rückmeldungen jeglicher Art und sende ganz liebe Grüße aus meinem wunderbaren Zimmer im P3W nach Deutschland,
Milena

(Hier die Links zu den neuesten Berichten des Westpapua-Netzwerks der VEM. Auf der Website (http://www.westpapuanetz.de/aktuelles) könnt ihr euch auch gerne regelmäßig über die Situation hier in Papua informieren;
http://www.westpapuanetz.de/aktuelles/1526-die-situation-in-wamena-und-jayapura-nach-den-unruhen
http://www.westpapuanetz.de/aktuelles/1527-praesident-jokowi-ist-bereit-sich-mit-vertretern-der-ulmw-zu-treffen
http://www.westpapuanetz.de/aktuelles/1528-prabowo-zum-verteidigungsminister-ernannt

http://www.westpapuanetz.de/aktuelles/1534-nein-westpapua-ist-nicht-sicher-interview-mit-zwei-gewaltfreien-aktivist-innen-des-neuen-wri-mitglieds-pasifika )

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Um mehr über Milenas Freiwilligendienst in Westpapua, Jayapura zu erfahren, kannst du gerne bei ihrem Blog vorbeischauen, auf dem sie sehr anschaulich und transparent mit Bildern von ihrer Arbeit und Begegnungen berichtet: ⬇️

https://milena-in-papua.jimdofree.com

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Danke, dass du bis zum Ende durchgehalten hast! 😊

Liebe Grüße aus dem sonnigen Sumatra🇮🇩,

Emily

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